Wir brauchen keine Evolution – sondern Revolution
Vor einigen Wochen hat Sir Ken Robinson einen TED-Vortrag gehalten, der nun online verfügbar ist. Das Problem mit seinen Vorträgen ist, dass man sie nahezu komplett zitieren könnte, so dass ich es lieber lasse und das Video oben empfehle.
Ich nutze gerade die Wege von und zur Schule, sein Buch zu hören. Und das Erstaunliche ist die Grundsätzlichkeit, mit der er Fragen an das Bildungssystem stellt. Und wie richtig dieser Ansatz ist, von der Motivation des Lerners auszugehen, zeigt sich für mich täglich in der Schule aber auch bei meinen eigenen Referaten vor Kollegen. Wenn ich Modelle und Szenarien vorstelle, wie mit neuen Medien gelernt und gelehrt werden kann, kommt immer wieder die Frage nach der Motivation der Schüler – jüngst am Donnerstag auf der iMedia.
Aber erstaunlich ist – und das habe ich anfangs gar nicht so wahrgenommen -, dass dies meistens mit der Intention gefragt wird, die impliziert, das bekannte Lehrsystem mit einer Art Motivationsspritze in Form von neuen Medien zu erhalten. Es geht – so meine Wahrnehmung – noch zu selten um die Motivation selbst, den Schüler, den Lerner. Es geht noch zu häufig um den Lehrer, sein “Wohlbefinden” in der Lehr- (nicht Lern-!)situation – also um seine (des Lehrers) Motivation. Und je länger ich darüber nachdenke, ging es auch im referendariat zu sehr (zu) großen Teilen um den Lehrer, seine Rolle, sein Befinden.
Und ich glaube, dass daraus die häufige Skepsis resultiert, die mir begegnet, wenn ich postuliere, man müsse sich als Lehrer selber mit den Medien beschäftigen, sich mit ihnen auseinandersetzen oder mehr noch… sie nutzen im eigenen Alltag und/oder Arbeitsprozess. Ist das womöglich gar nicht der richtige Ansatz? Ist es etwa ein Missverständnis, beim Lehrer ansetzen zu wollen anstatt beim Lerner? Wie müssen solche Vorträge aussehen? Ist das überhaupt mit Vorträgen möglich? Oder geht das eigentlich nur noch im innerkollegialen Kreis mit kollegialer Unterrichtshospitation?
Brauchen wir nicht nur eine Revolution im Bildungssystem – sondern auch oder zuerst im Lehrerausbildungssystem?
© René Scheppler, 2010
Hallo René,
ich stimme dir (und Ken Robinson) zu – wir benötigen eine grundsätzliche Änderung des Bildungssystems. Und es nur richtig und wichtig auf die Motivation der Schüler zu schauen.
Ich habe da gelernt zwischen der intrinsischen und extrinsischen Motivation zu unterscheiden. Wie bekommen wir die Schüler wirklich motiviert “echt” lernen zu wollen? Aus Überzeugung, nicht durch äußeren Druck?
Kein Einsatz von neuen Medien kann das auf Dauer verbessern. Es muss immer ein didaktisch-methodisches Gesamtpaket sein. Viele Faktoren müssen stimmen. Und die neuen Medien sind nur Medien.
lg Martin
Zu einer Revolution des Bildungssystems gehört zwangsläufig auch eine Revolution der Lehrerausbildung. Das geht alles Hand in Hand. Eine Revolution betrifft alle Bereiche des Bildungssystems.
Da passt, was Frau Valtin in “Schule im Blickpunkt” (4/10) schreibt
“Eine Lösung dieses Problems, das allein wegen der weltweiten „Einzigartigkeit“ des deutschen Schulsystems besteht, ist nur durch eine Schulstrukturänderung zu bewerkstelligen: längeres gemeinsames Lernen, Schaffen integrierter Schulsysteme, in denen alle Schüler und Schülerinnen Gelegenheit erhalten, ihre „Bildungsfähigkeit“ zu entwickeln und zu erproben, Ausbau von Ganztagsschulen und Schaffung von Ganztagsgymnasien, Bereitstellen von Fördermöglichkeiten, Unterstützung des Klassenlehrers durch Schulpsychologen, Sozialarbeiter und Beratungslehrer, Verbesserung der Lehrerbildung (Kompetenzen für differenzierendes Unterrichten,
Lernstandsfeststellungen und individuelle Förderung). Notwendig ist allerdings auch ein Mentalitätswechsel: Auf Schulversagen reagiert das Bildungssystem mit Rücknahme der Bildungsanstrengungen (Sitzenbleiben, Abschulen), anstatt mit verstärkten Förderbemühungen.” (gefunden über @MatthiasHeil)
Und warum kommt diese Revolution nicht? Das erklärt Sir Ken Robinson in diesen TED Talk auch (siehe Tyrannei des Verstandes).
Es ist schön, dass es Menschen wie Sir Ken Robinson gibt. Unser Problem liegt jedoch nicht auf der Ebene der Deskription: Was sich ändern und was geschehen muss, ist klar. Unser Problem liegt im exekutiven Bereich, d.h. wie setzen wir das durch? Leute wie Ken Robinson haben ideelle Macht, keine institutionelle.
Das ist gut für den Ruhm. Das ist schlecht für die politische Umsetzung dieser Ideen. Dementsprechend sehe ich – abgesehen von einmal mehr einer schönen Erfahrung und Bestätigung meiner Ideen – keinen realpolitischen(!) Mehrwert des Vortrags, sorry.
Ich sehe folgendes Paradoxon und überziehe das einmal gewaltig:
“Schulreformer” wollen eine Revolution des Systems. Sie “hassen” das System und wollen da nicht mitmachen. Das System besitzt die politische Macht durch Durchsetzung der “Revolution”. Eltern sind in Deutschland schon quantitativ keine wahlentscheidende Zielgruppe.
Wenn die “Schulreformer” das System – zumindest in der “Übergangszeit” nicht nutzen (sprich: das inhaltliche Machtvakuum in den politischen Parteien füllen), kann m.E. die Revolution nicht geschehen. Es gibt zwar die Idee, dass sich Schulen durch ihr Verhalten selbst abschaffen – aber mal ehrlich: Das wird doch primär denjenigen zu Gute kommen, die über den finanziellen Background oder das intellektuelle Kapital verfügen und eher weniger den “Verlierern des Bildungssystems”.
@Damian
Mir graust es bei Ganztagsschule davor, dass es “Zwangstagsschulen” im Sinne der Schulpflicht werden könnten. Ich kann mir das auf freiwilliger Basis gut vorstellen, möchte aber selbst darüber entscheiden können, wie viel Zeit meine Kinder in der Familie (und anderswo lernen) und wie viel Zeit sie in der Schule verbringen.
Es sind meine Kinder, nicht die des Staates. Schule ist m.E. ein Lernort unter vielen, nicht der einzige Lernort. Da bin ich nicht bei Frau Valtin. Damit ich ein Ganztagsangebot nutze, muss mich die Schule erst von dessen Mehrwert überzeugen. Das sehe ich bisher nicht. Henne-Ei-Problem.
@Maik:
Ich kan nachvollziehen, was Du ansprichst und sehe auch das Dilemma zwischen der theoretischen und praktischen Wirklichkeit. Ich würde aber dennoch ersteres nicht unterschätzen. Gerade in der aktuellen Zeit des massiven Generationenumbruchs in der Lehrerschaft sind solche auch durchaus optimistischen oder utopischen Idee durchaus hilfreich. Denn aus meiner Sicht fehlt es den jungen Kollegen an einem wichtigen Faktor: Erfahrung. Wir sind auf Theorien, erfahrene Kollegen und dann auch Ideen, die vielleicht auch etwas freier spinnen, angewiesen. Für mich ist das ein nicht zu unterschätzender Anker, meine eigenen Ideen einzuordnen oder auch Anregungen zu bekommen, die – natürlich, und da bin ich ganz bei Dir, angepasst bzw. adaptiert werden müssen.
Sicher wird es nie zu Reinformen dieser schulreformerischen Ideen kommen. Es sei denn, es werden eigene Privatschulen auf deren Grundlage gegründet. Aber ähnlich wie Du im Kommentar überspritzt, würde ich das Überziehen der Schulreformer nicht vom Tisch wischen wollen. Bei Ken Robinson ist für mich zudem interessant, dass er auch durchaus einen Fremdblick auf Schule mitbringt.
Aber vielleicht bin ich da auch einfach noch in den ersten Jahren (zu) berufsoptimistisch 😉
@rené
Ich bin von meiner Berufserfahrung wahrscheinlich gar nicht so viel “älter” als du. Ich bin von Norbert Tholen auf soziologische Ansätze zur Klärung der Bildungskrise gestoßen worden, die in meinen Augen viel von dem erklären, was ich selbst in z.B. Gremien immer wieder erlebe.
Ich bin nicht pessimistisch, inwieweit und ob Schule sich generell zu ändern vermag. Ich bin skeptisch, ob es gelingt, die dazu notwendige Solidarität unter breiten Schichten der Lehrenden zu generieren. Privatschulen hin, Privatschulen her: Von diesen werden wahrscheinlich nur die intellektuell oder finanziell begüterten Familien profitieren, zumindest wäre ich sehr interessiert an einer Quelle über eine Privatschule, in der das nicht so ist (z.B. eine in einer Großstadt mit großstadttypischem Migrantenanteil). Nenne mir eine systemverändernde(!) Revolution, die ohne Solidarität Realität geworden ist.
Beispiel:
Könnten wir bloggenden Lehrerenden es – zumindest theoretisch – hinbekommen, eine gemeinsame Webseite solidarisch zu gestalten? Da fängt es an. Im journalistischen Bereich klappt es z.B. mit carta – ein verhältnismäßiges “Blogschwergewicht”. Jedes Lehrendenblog für sich ist relativ bedeutungslos in der Breitenwahrnehmung – fünf bis zehn Lehrende zusammen (bundeslandübergreifend), die Gedanken und Materialien produzieren, könnten zumindest ein Signal sein. Angeb: Die Technik ist dabei kein Problem (für mich). Das Problem würde wahrscheinlich ein soziologisches.
interessant ist, dass das/die Probleme sehr lange bekannt und langsam auch sehr gut wissenschaftlich erforscht sind. Warum jedoch passiert nur sehr vereinzelt eine Umsetzung?
Wo ist der Unterschied zu 1961 ?
http://ganztagsschulen.wordpress.com/2010/06/02/hamburg-ganztagsschule-1961/
Ich glaube, dass sich “Schule” nicht ändert, solange nicht breit erkannt wird, dass eigentlich gar nicht um “Schule” geht. Wenn wir zu einem neuen Verständnis von Bildung gelangen wollen, dann nur, indem wir erkennen, dass Bildung wohl das Einzige ist, jedenfalls eines von dem Wenigen, das uns überhaupt eine Zukunft ermöglichen kann. Da das landauf-landab allenthalben von Wirtschaftsführern, Politikerinnen und Bildungsexpertinnen in wortgewaltigen Reden beschworen wird, gilt es hinzuzufügen, dass mit Zukunft nicht die lineare Fortsetzung des Bestehenden gemeint sein kann, sondern dass es von Etwas zu sprechen gilt, das vorerst jeden Vorstellungsrahmen sprengt. Es geht darum, dass Bildung vorbereiten soll, kann und muss auf eine Zukunft die in sehr radikaler Weise unbekannt ist. Und dann die Frage stellen: Wie muss Bildung und wie müssen Bildungssysteme beschaffen sein, um das leisten zu können. Wie Sir Ken Robinson sagt, glaube ich, braucht es dazu eine Bewegung. Noch bevor wir Diskussionen von Sinn und Unsinn von Tagesschulen führen, oder wenigstens parallel dazu, benötigen wir dringend so etwas wie ein “movement for new education”. Was uns zu 1961 führt oder in die 70er Jahre, als unternommen wurde Pädagogik im grossen Stil neu zu denken. Anders fürchte ich, ist die Herkulesaufgabe dieses Umkrempelns des Bestehenden nicht zu bewältigen.
Moin René,
das mit der Revolution ist ja so eine germanisch schwierige Sache, aber vier kleine Schritte sind auch schon ganz schön: bin gerade wieder mal bei Tom March gewesen und finde seine vier “basics” für IT & Lernen ganz wunderbar:
* Rich Online Routines
* A Culture of Collaboration
* An Approach to Self-managed Learning
* An Empowered Vision of Curriculum
mehr: http://donathwebzwei.wordpress.com/?p=422
…wobei die letzten drei ja auch nicht unbedingt nur auf IT beziehbar sind, trotzdem sehe ich gerade bei den dreien großen Nachholbedarf im bundesrepublikanischen Schulwesen – mit und ohne Computer.
Schnellherzlich
Reinhard
[…] >> Quelle […]
[…] gerade keine Zeit, selbst Gedanken dazu zu formulieren und verweise daher auf die Beiträge von René Scheppler und Felix […]